Passend zum 1.Advent möchte ich gerne erzählen, was es für uns als Familie mit einem schwerst behinderten Kind bedeutet, am ZeitSchenkerprojekt teilnehmen zu dürfen.
Ich denke unsere Geschichte passt wunderbar zur Adventszeit, in der es auch darum geht, Zeit miteinander zu verbringen und sich gegenseitig Zeit zu schenken. Zeit als Geschenk – gar nicht immer so leicht umzusetzen und dennoch so wertvoll!
Mama, Papa und drei Kinder
In vielerlei Hinsicht sind wir eine ganz normale fünfköpfige Familie, bestehend aus Papa, Mama und drei Kindern. Niko hat zwei ältere Geschwister. Judith ist heute 13 Jahre alt und Tobias 10 Jahre. Wir leben in einem kleinen Dorf im Siegerland und fühlen uns hier auch sehr wohl. Niko wird geboren – unser Familienleben verändert sich
Das Leben unserer Familie änderte sich schlagartig als unser Sohn Niko geboren wurde. Alle freuten sich auf das dritte Kind, auch wenn es eigentlich nicht geplant war. Bei Nikos Geburt schien noch alles in Ordnung, aber bereits am Nachmittag brach für uns die Welt zusammen.
Niko musste auf die Kinderintensivstation und ein Arzt teilte uns unumwunden mit, dass Niko schwerst behindert sei. Er werde nie etwas Anderes können, als auf dem Boden zu liegen und an die Decke zu starren, ohne sie zu sehen, denn er sei blind. Die genannte Diagnose war für uns alle zunächst nicht fassbar und so richtig vorstellen konnte sich niemand, was es für uns und unser Familienleben bedeutet. Unser Leben mit Niko – Sorgen, Freude und auch Dankbarkeit
Heute sind wir froh, dass wir noch nicht wussten, wie schwierig das Leben mit einem so stark behinderten Kind sein kann. Niko war sehr oft krank und musste schon viele Male ins Krankenhaus. Oft wussten wir Eltern und auch seine Geschwister nicht, ob er es überhaupt schaffen würde, aber Niko ist ein richtiger Kämpfer und vor allem, wenn er gesund ist, ein kleiner Sonnenschein.
Er lacht dann ganz viel und erzählt etwas in seiner eigenen Sprache. Immer wieder überrascht er uns aber auch damit, dass er viel mehr versteht als man ahnen kann. Selbst viele seiner Therapeuten haben sich schon bei Prognosen zu seiner Entwicklung verschätzt. Das hilft uns immer wieder, auch die schwierigen Zeiten zu ertragen und zu hoffen. Wir freuen uns und sind dankbar für jeden kleinen Fortschritt, den er macht. Bis heute kann Niko leider noch nicht lange sitzen oder allein essen, so dass er getragen, gefüttert und natürlich auch noch gewickelt werden muss. Ans Laufen ist gar nicht erst zu denken! Er hat keine aktive Sprache und so fällt es Fremden, die ihn nicht kennen, oft schwer, ihn zu verstehen. Er kann uns aber sehr deutlich mitteilen, ob er in seinen Rolli möchte, Hunger oder Schmerzen hat, oder ob er nur Langeweile verspürt und wir ihm aus seinem geliebten „Harry Potter“ vorlesen sollen.
Seine Geschwister vergessen manchmal, wie schwer Niko behindert ist, und ich halte ganz oft die Luft an, wenn ich sehe, wie sein großer Bruder mit ihm herumtollt. Ganz besonders liebt er es, mit seiner Schwester auf dem Sofa zu liegen und Hörspiele zu hören. Die zwei sind dann ganz in ihrer Welt und man darf sie nicht stören.
Viele fragen uns, wie wir Eltern, aber auch seine Geschwister das Leben „ständig unter Strom“ überhaupt ertragen und wie wir trotzdem noch lachen können. Es stimmt, das Leben mit einem so schwer behinderten Kind wie Niko es ist, ist nicht immer einfach und der Spagat zwischen dem „normalen Leben“ mit Judith und Tobias und dem Leben mit Niko ist oftmals sehr groß.
Es ist für alle nicht leicht, zwischen den Terminen für Niko auch noch Zeit für den ganz normalen Alltag zu haben. An einem Tag voller Termine und den Gedanken, wieder einmal nicht allen gerecht zu werden, habe ich im Wartezimmer der Kinderklinik den Flyer „ZeitSchenker“ für Familien gefunden.
„Ehrenamtliche ZeitSchenker entlasten Sie als Familie und schaffen Zeitinseln im Alltag“
Dieser Satz berührte mich gerade in diesem Moment, wo ich ziemlich am Boden war – eine Zeitinsel im Alltag – das klang zu schön, um wahr zu sein! Noch am gleichen Abend telefonierte ich mit Frau Weber, die das ZeitSchenkerprojekt mit Herzblut ins Leben gerufen hat und sich mit vollem Elan engagiert. Allein das Gespräch hat schon etwas entlastet. In der Woche nach unserem Telefonat besuchte uns Frau Weber gemeinsam mit Frau Müller.
Ein für uns fremder Mensch schenkt uns seine Zeit?!
Schon beim ersten Kennenlernen war klar – das passt! Wir Erwachsenen spürten, dass die Chemie zwischen uns stimmt und als Frau Müller ohne Worte verstand, dass Niko sie auch näher kennen lernen und dazu in seinen Rolli gesetzt werden wollte, war für uns klar: Das passt!
Seitdem hat der Alltag für uns alle eine Veränderung genommen. Ich kann auch mal in Ruhe eigene Termine wahrnehmen, die Hausarbeit erledigen oder auch mal etwas allein mit den Geschwistern unternehmen, aber auch Judith und Tobias freuen sich immer auf den Mittwoch, wenn Frau Müller – oder wie es mittlerweile heißt „unsere Anna“ kommt.
ZeitSchenker – Ein Geschenk für Geschwister und das erkrankte Kind!
Sie spielen gemeinsam Gesellschaftsspiele, gehen zum Minigolf oder genießen es, beim gelegentlichen Stadtbummel auch mal Zeit zu haben, in den Geschäften zu stöbern, ohne dass sie Rücksicht auf Niko nehmen müssen. Auch Niko freut sich „über den Familienzuwachs“. Er strahlt über das ganze Gesicht, wenn Frau Müller das Zimmer betritt und verlangt sofort mit zappelnder Ungeduld, dass sie zu ihm kommt.
ZeitSchenker – Ein Geschenk auch für uns Eltern
Mama und Papa – oder auch nach langer Zeit mal wieder nicht nur Eltern, sondern auch ein Ehepaar! Wann hatten wir das zum letzten Mal? Ein besonderes Erlebnis für uns ist, dass wir uns auch einmal den Luxus eines gemeinsamen Abends im Kino oder auch beim Italiener gönnen können. Nur wir beide und ohne die Sorge, wie es den Kindern geht und ohne die Blicke der anderen Gäste, wenn unsere bunte Familie mit 3 Kindern, Rollstuhl und allerhand Taschen mit Zubehör für Nikos Bedürfnisse das Restaurant betritt.
Erst dreimal in all den Monaten haben wir uns dieses Erlebnis gegönnt – noch müssen wir uns daran gewöhnen, dass es auch einmal nur um uns geht! Das ist total ungewohnt!
ZeitSchenker – Wertschätzung und Bereicherung
Aber auch für Anna Müller ist ihre Aufgabe eine Bereicherung! Obwohl ihre eigenen Kinder noch im Haus leben und der eigene Familienalltag sie auch beansprucht, nimmt sie sich die Zeit, einmal pro Woche zu uns zu kommen und „ihre Familie“ zu besuchen. Warum eigentlich, wird sie auch häufig von ihren Bekannten und Freunden gefragt.
Sie sagt dann immer wieder, dass es so schön ist, zu sehen, wie sie durch ihr „Dasein“ Entlastung schenken kann. Die Freude von Judith und Tobias, die sie schon an der Tür abholen, sobald es klingelt und die Ungeduld, die Niko zeigt, wenn sie nicht schnell genug zu ihm kommt, zeigen ihr, wie wichtig es ist, dass sie uns ein paar Stunden ihrer Zeit schenkt. Die Wertschätzung freut sie und so haben wir alle etwas davon.
Es ist ein beidseitiges Geben und Nehmen! Danke, dass es dieses Projekt gibt!
(Die Namen unserer Kinder und auch unserer Zeitschenkerin wurden geändert)